Der Ehrlichkeit halber muss ich es gleich vorwegnehmen: Bei den Recherchen zu diesem Thema in der Fachliteratur ist für mich eine kleine Welt zusammengebrochen. Ich war teilweise auf dem Holzweg und durfte dies jetzt einsehen. Das zeigt, dass auch ein berufsmäßiger Besserwisser dazulernen kann und muss. Wie schon das Sprichwort besagt, heißt glauben ja nicht wissen. Und ich durfte erkennen, dass mein vermeintliches Wissen mehr ein „Glauben“ war. Vermutlich wird es dem einen oder anderen Leser gleich ähnlich ergehen. Also: „Augen zu – pardon, auf – und durch!“
Wertvolle Literaturhinweise
Um nicht zu „guttenbergen“, möchte ich noch anmerken, dass ich meine nachfolgenden Weisheiten zwar auf vielen eigenen Brauerfahrungen gründe, diese aber auch von Braukoryphäen wie Jean de Clerck, Ludwig Narziß, Franz Weinfurtner und vielen mehr wissenschaftlich bestätigt weiß (vgl. dazu das Literaturverzeichnis im Anhang). Zum Beispiel fasst Professor Narziß in seinem „Abriß der Bierbrauerei“ das Thema „Vollmundigkeit“ auf den Seiten 314 bis 316 sehr gut zusammen. Das Studium dieser Seiten macht diesen Artikel eigentlich überflüssig, denn dort ist alles nachzulesen. Allerdings lehnen sich auch Narziß’ Ausführungen insgesamt wieder stark an die von Weinfurtner an. Die Katze beißt sich bei diesem Thema also in den Schwanz und ich beiße jetzt kräftig mit.
Wie schmeckt Vollmundigkeit?
Vollmundigkeit ist eine Eigenschaft des Biers, die chemisch-technisch nicht messbar und auch sensorisch nur schwer zu erfassen ist. Als vollmundig wird ein Gerstensaft in der Regel dann empfunden, wenn er „malzig-süß“, aber nicht „mastig- breit“ oder „trocken-leer“ schmeckt (s. Abb. 1). Das Malzaroma soll bei einem vollmundigen Bier deutlich wahrnehmbar, jedoch nicht aufdringlich sein. Nach Franz Weinfurtner sollte „grundsätzlich jedes Bier rein, mild, vollmundig und rezent schmecken“ (Weinfurtner, S. 167), wobei diese Sinneseindrücke natürlich biertypabhängig sind: Die Vollmundigkeit ist bei einem dunklen Bier Münchner Typs (dunkles Export) am ausgeprägtesten. Danach kämen dann in absteigender Reihenfolge der Wiener Typ (Märzen), der Dortmunder Typ (helles Export) und letztlich der Pilsner Typ. Auf die Abhängigkeit der Vollmundigkeit von der Biergattung (Doppelbock vs. Vollbier) wird später noch eingegangen.
Vollmundigkeit | |
Positive Beschreibungen | Negative Beschreibungen |
voll, süffig, kernig, zum Weitertrinken einladend, mit „Körper“ | süß, mastig, pappig, breit, aber auch leer, ohne „Körper“ |
Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass alle technologischen Maßnahmen, die im Mälzungs- und Brauprozess schaumfördernd wirken, auch gut für die Vollmundigkeit sind. Schon de Clerck formuliert: „Es ist eine allgemeine Regel, daß (sic!) gut schäumende Biere auch vollmundig sind.“ (de Clerck, Lehrbuch, S. 804).
Welche Rolle der Bierschaum spielt
Ebenso gilt bis einschließlich zum Ausschank bzw. Zapfen, dass alles, was den Bierschaum schädigt, auch zulasten der Vollmundigkeit geht. Hierin liegt für mich der oben angedeutete Aha-Effekt. Vollmundigkeit ist nach de Clerck eine Sache der Kolloide (vgl. de Clerck, Lehrbuch, S. 804). Kolloide sind alle im Bier gelösten bzw. fein verteilten (dispersen) Teilchen im Größenbereich zwischen 1 bis 1000 nm. Gut für den Schaum und die Vollmundigkeit des Biers sind somit alle im Bier vorhandenen oberflächenaktiven kolloiden Substanzen wie hoch- bis mittelmolekulare Sickstoffverbindungen bzw. Eiweißstoffe, Hopfenharze (vor allem die Alphasäuren), Dextrine, Gummistoffe, Pentosane, Gerbstoffe, stärkehaltige Polysaccharide, Melanoidine, manche Mineralstoffe usw. Zusätzlich ist auch eine ausgeprägte Rezenz förderlich für Vollmundigkeit und Schaum.
Vergärungsgrad und Restextrakte
Der Vergärungsgrad des Biers und auch der unvergärbare Restextrakt im Bier haben dagegen nicht die tragende Rolle für die Vollmundigkeit, wie sie gerade von Hobbybrauern oft angenommen wird. Biere mit hohem Endvergärungsgrad stehen solchen mit einem niedrigen in Sachen Vollmundigkeit in nichts nach, „da weder Maltose noch Dextrine alleine wesentlich zur Vollmundigkeit beitragen“ (Weinfurtner, S. 166f) und ein hoher Endvergärungsgrad zudem mit einem hohen Alkoholgehalt einhergeht. Die Alkoholmenge im fertigen Bier ist ein Geschmacksträger und fördert die Vollmundigkeit deutlich.
Maßnahmen für ein vollmundiges Bier
Den Hausbrauer wird wohl am meisten interessieren, wie er durch technologische Maßnahmen ein ausgewogen vollmundiges Bier erhält. Hierbei kann er in allen Brauschritten von der Rohstoffauswahl bis hin zum Ausschank Einfluss nehmen. Also aufgemerkt!
Rohstoffe
Alle nach dem Reinheitsgebot zulässigen Rohstoffe wie Brauwasser, Malz, Hopfen und Hefe beeinflussen die Vollmundigkeit des fertigen Biers.
Beim Wasser spielen die vorhandenen Brauwassersalze, besonders die Chloride, eine große Rolle. Die nach dem Reinheitsgebot zulässige Zugabe von Calciumchlorid wirkt sich sehr günstig aus. Aber auch die Verwendung von kochsalzreichem Brauwasser ist förderlich. Eine Kochsalzzugabe ist zwar nicht reinheitsgebotskonform, war aber zum Beispiel bei der Gose üblich und ist darum bei dieser historischen Biersorte erlaubt. Ich habe immer angenommen, die Brauer bzw. Wirte würden der Gose Kochsalz zugeben, um dem Kunden Durst zu machen und den Absatz zu steigern, aber vielleicht diente dies auch „nur“ einer Verbesserung der Vollmundigkeit. Sulfate, z. B. Calciumsulfat, wirken ebenfalls förderlich, wenn auch nicht ganz so intensiv.
Beim verwendeten Malz spielen die dadurch ins Bier eingebrachten Melanoidine eine große Rolle. Malze aus eiweißreicheren Gersten bzw. solche mit einem hohen Proteingehalt – also dunkle Malze Münchener und Wiener Typs, Karamellmalze, Melanoidinmalz sowie Spitzmalz, aber auch Weizenmalz, Roggenmalz und Dinkelmalz – als Teil der Schüttung führen zu einer kräftigeren Vollmundigkeit.
Hopfenharze, dabei besonders die Alphasäuren, beeinflussen vor allem in ihrer isomerisierten Form den vollmundigen Geschmack des Biers positiv. Somit ist eine hohe Bitterstoffausbeute anzustreben (s. unten: Würzekochen). Aber auch die Gerbstoffe, Eiweiße, Mineralstoffe und Pektine des Hopfens helfen, die Vollmundigkeit zu verbessern.
Bei der verwendeten Hefe kommt es auf die Heferasse an. Untergärige Bruchhefen zu verwenden, die mehr höhere Alkohole bilden, ist für die Vollmundigkeit besser als der Einsatz untergäriger Staubhefen. Hinsichtlich der Hefe-Art gilt: Obergärige Hefen vergären den Dreifachzucker Raffinose nur zu einem Drittel, wodurch der Restextraktgehalt entsprechender Biere (z. B. von Weizenbieren) höher ist. Sie schmecken folglich leicht süßer als untergärige Biere.
Brauprozess
Im Brauprozess kann der Brauer beim Maischen, beim Würzekochen, bei Gärung und Reifung sowie bei der Filtration und Abfüllung auf die Vollmundigkeit Einfluss nehmen.
Biere mit hoher Stammwürze (Stark- bzw. Bockbiere) weisen eine deutlich ausgeprägtere Vollmundigkeit auf als solche mit niedriger Stammwürze. Analog gilt dies für Festbiere im Vergleich zu einem Bier der Sorte „Helles“. Dabei bewirkt die Schüttung von entsprechenden Malzen (s. o.) eine Intensivierung der Malznote.
Maischverfahren, die den Schaum im fertigen Bier fördern, verbessern auch die Vollmundigkeit. Wider Erwarten sind also Infusionsverfahren mit recht dicken Maischen durchaus gut geeignet, besser sogar als intensive Dekoktionsverfahren wie Zwei- und Drei-Maisch-Verfahren, die oft einen eher zu breiten Biercharakter zur Folge haben. Besonders hilfreich ist eine hohe Einmaischtemperatur, die durchaus über 60 °C liegen kann. Diese bewirkt, dass die vorhandenen hochmolekularen Eiweißstoffe größtenteils erhalten bleiben. Werden diese zu zahlreich in Aminosäuren abgebaut und dann später von der Hefe verstoffwechselt, leidet der volle Biergeschmack. Zwar verursacht der hohe Gehalt an Proteinen und hochmolekularen Eiweißabbauprodukten (Peptide) im fertigen Bier chemisch-physikalische Trübungen, die bei unfiltrierten Bieren, wie sie Hobby- und Gasthausbrauer vorwiegend produzieren, aber keine Rolle spielen dürften.
Die Dauer der Maltoserast und damit der erzielte Endvergärungsgrad beeinflussen ebenfalls die Vollmundigkeit. Kurze Maltoserasten bzw. ein niedriger Endvergärungsgrad bewirken eher einen breiten Trunk, lange Rasten im Bereich zwischen 62 und 68 °C führen zu alkoholhaltigeren und süffiger schmeckenden Bieren. Da sowohl Maltose als auch Dextrine wie schon beschrieben weniger zur Vollmundigkeit beitragen, als oft angenommen wird, sind hohe Endvergärungsgrade durch eine intensive Maltoserast anzustreben. Weitere Vorteile werden noch im Abschnitt zur Gärführung beschrieben.
Beim Würzekochen sind lange Hopfenkochzeiten anzustreben, durch die sich eine hohe Bitterstoffausbeute ergibt. Dies sollte aber nicht über lange Kochzeiten der Würze, sondern eher über frühe Hopfengaben erreicht werden. Für lange Hopfenkochzeiten und damit eine Isomerisierung von mehr Alphasäuren ist eine Hopfung der Vorderwürze hilfreich. Sogar die Gabe von Aromahopfen in die Vorderwürze bei Temperaturen unter 78 °C ist möglich, ohne dass sich diese Maßnahme nachteilig auf das Aroma des fertigen Biers auswirkt. Die Hintergründe dieses Sachverhaltes zu beschreiben, würde hier aber den Rahmen sprengen. Zu lange Kochzeiten der Würze führen zu einer intensiven Eiweißausfällung und gehen damit wieder zulasten der Schaumbildung und Vollmundigkeit.
Beim Würzekühlen scheiden sich in puncto Kalttrubausscheidung die Geister. Einerseits bewirkt diese Klärung zwar mildere Biere, verbleibt der Kalttrub aber in der Würze, werden die daraus resultierenden Biere kerniger im Geschmack.
Bei der Hauptgärung empfiehlt sich eine kalte Gärführung (Anstellen mit starker Belüftung der Würze bei 5 °C, Höchsttemperatur während der Hauptgärung 9 °C). Die Ausscheidung von Eiweißkolloiden und Hopfenbitterstoffen ist gering, die Biere bekommen einen feineren Geschmack und, in diesem Zusammenhang wichtig, eine ausgeprägte Vollmundigkeit.
Ein hoher Endvergärungsgrad ist anzustreben. Werte von 80 Prozent und mehr sind für die Vollmundigkeit nicht von Nachteil, da der so erreichbare höhere Alkoholgehalt förderlich wirkt. Die Differenz zwischen Endvergärungsgrad und Ausstoßvergärungsgrad sollte maximal zwei Prozent betragen. Nur ausreichend hoch vergorene Biere enthalten keinen zuckerhaltigen Extrakt mehr, der Mikroorganismen Nahrung bietet, und haben dadurch auch eine gute mikrobiologische Haltbarkeit.
Der Spundungsdruck während der Reifephase sollte der Biersorte angemessen hoch sein. So ergibt sich eine ausreichende Rezenz, die dann bei der Verkostung die Vollmundigkeit hervorhebt. Aber Vorsicht: Viel hilft hier nicht viel! Ein Überspunden des Biers ist aus vielen Gründen zu vermeiden.
Jede Filtrationsmaßnahme verbessert die Haltbarkeit des Biers, dabei werden aber auch wesentliche Bierinhaltsstoffe entfernt. Je stärker die Filtration ist (Kieselgurfiltration → Entkeimungsfiltration → Gerbstoff-Stabilisierung mit PVPP usw.), desto mehr Geschmacksstoffe verliert das Bier. Genauso werden bei der Haltbarmachung des Biers durch Erhitzen (Pasteurisation) viele für die Vollmundigkeit ursächliche Kolloide im Bier ausgefällt. Der Trend hin zu nicht wärmebehandelten, unfiltrierten Bieren bestätigt dies und ist wohl auch ein Grund für die Zunahme des Hobbybrauens sowie die immer neu entstehenden Gasthausbrauereien.
Die Sauerstoffaufnahme beim Ausschank des Biers ins Glas bewirkt noch eine geringfügige Zunahme der Vollmundigkeit. Im Hinblick auf Geschmack und Aroma sollte die Trinktemperatur nicht zu niedrig gewählt werden. 10 bis 12 °C sind ideal.
Und noch etwas: Mit zunehmender Alterung nimmt die Vollmundigkeit auch und gerade bei hefetrüben Bieren ab. Die geruchliche Alterung bewirkt zwar oft, dass „alte“ Biere aromaseitig viel versprechen, dann aber keine große Geschmacksintensität aufweisen. Einem ausgeprägten, oft honig- oder sherryartigen Aroma steht dann leider ein „leerer“ Biergeschmack gegenüber. Ursache für die Abnahme der Vollmundigkeit ist die Autolyse der Hefe. Bei Nahrungsmangel löst sich die Hefezelle auf und gibt ihr Zellinneres, darunter auch eiweißabbauende Enzyme, ins Bier frei. Diese spalten hochmolekulare Eiweißstoffe und es kommt zu den schon beschriebenen Folgen. Dennoch lassen sich gerade durch die bewusste Alterung filtrierter, ausreichend starker Biere schöne Erfolge erzielen.
Fazit
Das Bier sollte nicht zu lange aufbewahrt werden. „Bier wird nur zu dem Zweck gebraut, um getrunken zu werden, und dasjenige Bier, das nicht getrunken wird, hat eben seinen Beruf verfehlt.“ So formulierte es Dr. Alexander Meyer, Journalist und Abgeordneter aus Breslau am 21. Januar 1880 im preußischen Landtag bei der Beratung des „Gesetzentwurfs betreffend die Steuer vom Vertriebe geistiger Getränke“ ganz treffend.
Ich wünsche Ihnen viele süffige, vollmundige Brau-Erfolge und vor allem zweckentsprechend genutzte Biere im Glas!
Literatur
De Clerck, Jean, Lehrbuch der Brauerei. Band 1: Rohstoffe, Herstellung, Einrichtungen, Berlin 21964, Seiten 801 und 804 bis 805
Narziß, Ludwig, Abriss der Bierbrauerei, Stuttgart 41980, Seiten 314 bis 316
Weinfurtner, Franz, Die Technologie der Gärung. Das fertige Bier (= Die Bierbrauerei. Dritter Band), Stuttgart ³1963, Seiten 159, 166f, 181, 201, 246, 265, 280, 369 bis 374, 379, 382, 386, 413, 430, 433, 437 und 455